Weihnachten – Fest der Besinnungslosigkeit?
„Every year the same procedure“
Die Weihnachtszeit (quasi September bis Februar) ist für mich eine wichtige Forschungszeit. Nicht selten beobachte ich, meist mit großen Augen, meine gestressten und geschäftigen Mitbürger. Geht es nur mir so, oder kommt es Ihnen auch so vor, als nähmen Hektik und Stress von Jahr zu Jahr immer weiter zu? „Every year the same procedure“ heißt es da nicht erst zu Silvester. Bereits im Spätsommer wurden die letzten WM-Fähnchen und Grillsondersaucen nahtlos von den ersten Schokonikoläusen, Lebkuchen und Spekulatius verdrängt (und ja, wen es interessiert: Die Mehrzahl von Spekulatius ist ebenfalls Spekulatius). Seit Oktober, wo es in Berlin noch gefühlte 30 Grad hatte, lief in Aufzügen und Einkaufszentren bereits Last Christmas rauf und runter. Selbst die optimistischsten Gutmenschen hatten zu dem Zeitpunkt schon die Hoffnung aufgegeben, dass es dieses Jahr wirklich das letzte Weihnachten sein würde (oder wenigstens Last Christmas auf den Index verbotener Lieder kommt). Trotzdem verhalten sich viele Menschen exakt so.
Wie ferngesteuerte Roboterzausel hetzen sie von der Weihnachtsfeier der Zweit-Kita zum Weihnachtsmarktbesäufnis mit ausgerechnet den Arbeitskolleg*innen, die man das ganze bisherige Jahr kaum beachtet hat. Dort, im Ambiente eines kleinen nostalgischen Hüttendorfes (allerdings bevölkert wie nach dem Einmarsch der gesamten Nachbarstaaten), entschwinden die Alltagsprobleme für einen Moment im Nebel der Glühweinstände. Das kostet allerdings Energie und Immunkraft. Wohin man auch schaut, da wird gerotzt, geschneuzt und gekeucht. Bloß keine Schwäche zeigen auf dem vorweihnachtlichen Kriegsschauplatz. Wer innehält, verliert (scheinbar). Doch anschließend sind viele krank, bevorzugt an den Wochenenden und über die Feiertage, nämlich wenn der Stress nachlässt, der das Immunsystem und seinen Alarm unterdrückt. Wo ist sie bloß? Die Ruhe und Besinnlichkeit, die der Geburt des holden und lieblichen Christkindes gedenken soll? Ich komme mir an manchen Tagen vor wie Neo in der Matrix, wenn er alles um sich herum in Superzeitlupe wahrnimmt.
Wo Sie Ruhe und Langsamkeit finden
Und dann habe ich sie doch entdeckt, die Langsamkeit. Am Wochenende war ich nämlich versehentlich im Alexa einkaufen, das ist eine der Massenmalls in Berlin, in die gefühlte 500.000 Menschen reinpassen. Am Samstag war sie übervoll. Da ich nur ein Ersatzbirnchen für eine Lampe kaufen wollte (und vergessen hatte, dass dieses Jahr wahrscheinlich mal wieder das letzte Weihnachten FÜR IMMER sein wird), war ich zunächst etwas überrumpelt. Heerscharen an Berliner*innen und Tourist*innen pressten sich wurstartig durch die Gedärme des Gebäudes. Mir kommt es alljährlich so vor, als verabreden sich alle Erdenbürger*innen (bevorzugt Süddeutsche) einmal im Jahr zur Weihnachtszeit zu einer Art Mega-Flashmob in Berlin, diesmal im Alexa. Und da fand ich sie plötzlich, die innere Einkehr – mitten auf dem Gang – in Form philosophierender Großfamilien, die sich kaum vom Fleck bewegten. Sie kommunizierten in Sprachen, die von der Evolution lange unentdeckt blieben: Sächsisch, Schwäbisch, Niederbayrisch, Schwyzerdeutsch… Ich kam mir vor wie beim Turmbau zu Babel. Während innerhalb der Geschäfte alle furchtbar gestresst und hektisch auftraten, bewegten sich die Menschen in den Gängen mit einem scheinbar ausgleichenden Zeitlupentempo. So als spare man sich die Kraft für den Zeitpunkt auf, in dem man die Pforten des nächsten Ladens betritt. Um mit ausgespreizten Ellbogen das Fest der Liebe vorzubereiten. Natürlich nur für seine eigenen Lieben, versteht sich. Andere Mitmenschen, die man das restliche Jahr zumindest ignoriert, werden plötzlich zu potentiellen Weihnachts-Terroristen, die einem das letzte Schnäppchen oder gar den lang erwarteten Fachberater wegnehmen könnten. Es kann eben nur einen geben, am Wühltisch…
Statistischen Erhebungen zufolge sind übrigens die Erfolgreichsten am Ende immer die Sachsen. Vermutlich weil sie den ganzen Sommer mit ihren Handtüchern überall auf der Welt das zeitige Reservieren an Strandliegen geübt haben.
Um das rasche Vorbeihuschen normaler Menschen in den Gängen zu verhindern, bilden die weihnachtlichen Eroberer der Malls eine erprobte Panzerkette, wie man sie sonst höchstens noch von Demos der Grünen in den 80ern kennt. Meist laufen dafür drei bis fünf Mitglieder einer Sippe nebeneinander und zwar in der Schrittgeschwindigkeit eines Kleinkindes, das gerade laufen zu lernen begann. Meist ist auch mindestens ein Kleinkind dabei, dass dann das Tempo für die Abfangkette vorgibt, während Papa, Opa oder Schwippschwager den (leeren) Kinderwagen neben sich herschieben. Und nein, ich habe nichts gegen Kinder, ganz im Gegenteil. Ich bin allerdings auch ein Freund des sozialen Mitdenkens. Um die ohnehin kargen Lücken dazwischen effizient zu schließen, werden diese wahlweise mit Tüten und/ oder den restlichen Kindern verstopft. Währenddessen wird notorisch und lautstark über Berlin gewettert und wie froh man doch ist, dass man in diesem übervollen Irrenhaus nicht dauerhaft leben muss (und das ist kein Scherz!). Nach dem dritten halsbrecherischen Manöver durch solch feindliche Linien entschloss ich mich, in den kommenden 30 Minuten bis zur nächsten Überholmöglichkeit (in ca. 15 Metern) eine Gehmeditation zu praktizieren, ohmmmmm.
Bevorzugt bleiben diese Irrenhaus-Tourist*innen dann auch noch alle zwei Minuten stehen, um darüber zu sinnieren, ob sie nun zuerst bei Primark die Schuhe für 3,50 € aus der Werbung kaufen sollen oder doch lieber bei Media-Markt für die 30-Monatsfinanzierung des Toasters aus Taiwan anstehen sollen (quasi als originales Berlin-Souvenir). Ob das bereits die Art von Ruhe ist, die ich im zwischenmenschlichen Alltag vermisse? Wohl kaum…
Obwohl das Angebot solcher Malls das Überleben einer Kleinstadt nach dem nuklearen Holocaust sichern soll, finden sich dort erstaunlich wenig Fluchtwege mit Besinnungspotenzial. Selbst vor den Massagesesseln ist eine kilometerlange Warteschlange und ich gebe nach 60 Minuten auf und geh nach Hause (wo es aktuell sehr besinnlich ist). Einstein hatte Recht, Zeit ist so relativ und gefühlt bin ich in dieser Stunde nicht nur um 1 Jahr gealtert, es kam mir auch erschöpfender vor als ein Marathonlauf. Ergänzt wird dieses Chaos durch Dauerlärmbeschallung aus allen Ritzen, geruchsmäßige Reizflut (auch aus allen Ritzen) und ein Querschnitt sämtlicher Stil- und Modesünden der 70er, 80er und 90er sowie das Beste von heute. Mein Lämpchen zu finden war dann auch wie die Suche nach der Stecknadel im Misthaufen. Ich habe es dort natürlich nicht gefunden (zumindest innerhalb der für mich erträglichen Toleranzzeit) – leider. Nun habe ich es im Internet bestellt, so wie auch 50% der Menschen ihre Weihnachtsgeschenke online ordern – irgendwie verstehe ich das mittlerweile.
Weihnachten ist heutzutage Partyzeit
Auf dem Weg durch die Stadt und in den Öffis betrachte ich Plakate von Christmasparties und –galas. Wechselweise mit Flatratesaufen, Single-Dating (je nach Bedarf von U 30 bis Ü 50) oder All-Inclusive-Buffet. Maßlosigkeit bis zur Besinnung? Und ich ertappe mich dabei, wie ich mich (als ehemaliger Ministrant) an die Zeiten zurück erinnere, als Weihnachten wenigstens noch symbolisch etwas mit “Stille Nacht“ zu tun hatte. Apropos Stille. Am Montag stürzte sich auf dem Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz ein Mann aus dem 60 Meter hohen Riesenrad zu Tode. Danach war das ökumenische Winterfest vorbei – zumindest für die letzte Stunde des besagten Montags. Immerhin. Auch das erfuhr ich erst heute, ebenfalls von meiner Haarkürzungsexpertin. Ich fand über diesen Vorfall (okay, schlechtes Wortspiel) auch eine positive Nachricht heraus: Laut der alljährlichen Statistiken des Statistischen Bundesamtes liegt die Selbstmordrate im Dezember – entgegen landläufiger Meinung – niedriger als beispielsweise im Frühjahr oder Sommer. Vielleicht gibt es ja doch noch einen Hoffnungsschimmer. Und das war auch der eigentliche Anstoß für diesen Artikel.
Worauf kommt es denn im Leben wirklich an? Ist Weihnachten der Höhepunkt des Jahres, nur weil wir von der Konsumwirtschaft dazu gedrängt werden? Und warum feiern wir das so wenig und machen stattdessen einen Wettbewerb draus? Ist es vielleicht mal an der Zeit, inne zu halten und einfach im Riesenrad sitzen zu bleiben? Verschenke doch mal wieder was selbst Gebasteltes. Wenn sich Dein Gegenüber darüber nicht ehrlich freut, dann hätte es andernfalls auch kein gekauftes Geschenk verdient. Du sparst Dir Geld und das Alexa und alle anderen Einkaufszentren bleiben überschaubar – für Leute die nur eine Glühlampe kaufen möchten.
Naja, nimm diesen Artikel und auch die Hektik der Adventszeit nicht zu ernst. Lass Dich nicht stressen, denn laut Hochrechnungen des statistischen Bundesamtes wird es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch 2015 wieder ein Weihnachtsfest geben. Ich wünsche Dir und Deinen Lieben in jedem Fall eine besinnliche Weihnachtszeit. Nutze den Advent und auch das Jahresende, um Dich selbst auf das zu besinnen, was wirklich zählt im Leben. Für mich sind das Gesundheit, Glück und Zufriedenheit, wahre Freunde und meine Familie. Und um den Stress zu dämpfen, beginnt der Advent 2015 schon im August, versprochen…
Liebe Grüße
Markus Orschler